10 Jahre Fukushima

Kommentar

Der traurige Jahrestag des Nuklearunfalls von Fukushima jährt sich zum 10. Mal. Man kann die Geschichte der zivilen Atomkraftnutzung seit 1954 als eine Serie von mehr oder weniger gravierenden Unfällen erzählen. Der schwerste unter ihnen war mit Abstand der von Tschernobyl. Nach Fukushima wurden in der Schweiz, in Spanien, Taiwan, Südkorea sowie in Deutschland endlich konsequente Lehren gezogen.

Mike Weightman, Leiter des IAEA-Erkundungsteams, untersucht am 27. Mai 2011 den Reaktorblock 3 im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, um die Tsunami-Schäden zu beurteilen und Lehren für die nukleare Sicherheit zu ziehen, die aus dem Unfall gezogen werden könnten.

Nachdem der Ausstiegsbeschluss der rot-grünen Bundesregierung zunächst rückgängig gemacht worden war, verkündete die Bundeskanzlerin am 5. Juni 2011 den Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft. Inzwischen laufen noch sechs Reaktoren, die alle bis Ende 2022 vom Netz gehen werden. Erst in diesem Jahr, 2021, scheint der deutsche Atomausstieg juristisch abgeschlossen zu sein mit der Entschädigungszusage von 2,4 Mrd. Euro an die Atomkraftbetreiber.

Global aber wurden Lehren vielerorts nur auf technischer Ebene gezogen. Es gab Anpassungsmaßnahmen, es gab Pläne, die Sicherheitsstandards zu erhöhen, durchgeführt wurden sie nur in einem Teil der Anlagen. Kleinere Probleme wurden beseitigt - das große Problem aber bleibt: Atomenergie bedient sich einer veralteten Technologie, die für das eigentliche Ziel der Stromerzeugung ungeeignet ist – denn sie ist zu unwirtschaftlich, zu riskant, zu inkompatibel mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien und verschwendet zu viel Steuergeld, mit dem Probleme in die Zukunft verschoben werden.

Dennoch: Nach jedem Reaktorunglück regt sich ein mythologisches Revival, das Argumente und vor allem Versprechungen auf den Tisch legt, die einer Verharmlosung der ungelösten Probleme das Wort reden. So auch heute. Falsche Sicherheitsversprechen und angeblich sichere, kleinere und neuere Nukleartechnologien (SMR) suggerieren, der Mensch des Anthropozäns könnte die Technologie in den Griff bekommen und nur mit Nuklearenergie ließe sich der Wohlstand erhalten, wenn wir gleichzeitig und rasch die Klimakrise überwinden wollen.

Das Gegenteil ist der Fall. Die neue Energiewelt ist dynamisch, partizipativ, bürgernah, dezentral und effizient. Eine wenig flexible, zentralisierte Art der Stromerzeugung passt nicht hinein. Die Erneuerbaren sind wettbewerbsfähig und können sofort das Klima schützen. Atomenergie verschlingt Milliarden öffentlicher Subventionen und der Bau neuer Kraftwerke dauert mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Der World Nuclear Industry Status Report erfasst jährlich die relevanten Zahlen zur Atomkraftnutzung: Der Anteil der Atomenergie am globalen Strommix hat sich seit 1996 halbiert, von 20 auf 10 Prozent. Während vor 10 Jahren noch 437 Atomkraftwerke am Netz waren, sind es heute noch 413. Allein im Jahr 2019 wurden zusätzlich 184 GW aus Erneuerbaren Energiequellen (außer Wasserkraft) in die weltweiten Energienetze eingespeist. Dass der Zuwachs beim Atomstrom lediglich 2,4 GW betrug, beweist den Bedeutungsverlust der Nuklearindustrie. (WINSR 2020, 32)

Wenn die neue US-Administration, deren klimapolitische Ziele ambitioniert sind, Atomkraft als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems betrachtet, eröffnet sich hier ein Spannungsfeld. Auch in den USA ist Atomkraft für den Umbau in Richtung Erneuerbare längst nicht mehr nötig.

Die Nutzung der Kernkraft wird hierzulande bald ein abgeschlossenes Kapitel sein, ihre strahlenden Hinterlassenschaften sind es nicht. Der 2019 erstmals erschienene Nuclear Waste Report weist nach, dass allein die in Europa betriebenen Atomkraftwerke 6,6 Mio Kubikmeter Atommüll produzieren und hinterlassen. Wohin damit? Die sichere Verbringung des Atommülls gehört zu den schwierigsten Aufgaben, sowohl im Hinblick auf technische, als auch auf politische Prozesse. Die andauernde Suche nach einem Atommüllendlager in Deutschland macht das exemplarisch deutlich. Inzwischen sieht das Auswahlverfahren neben technischen Kriterien auch ein demokratisch legitimiertes Entscheidungs- und Konfliktbewältigungsverfahren vor. Denn der zu findende Konsens muss möglichst viele einbeziehen und generationenfest sein.

Warum, so lautet eine berechtigte Frage, ist bei erdrückender Faktenlage gegen Atomenergie der Mythos Atomkraft nicht längst Geschichte? Im Zeitalter der Desinformationen, der Faktenleugnung und ressentimentgeladenen Politiken ist der Mythos Atomkraft sogar noch anziehender geworden. Nuklearfreundinnen und –freunde und Nuklearbetreiber lenken mit ihrem Befeuern kleinerer und größerer Mythen, mit dem Bestreiten und Verharmlosen gravierender Probleme und Gefahren ab von einer öffentlichen und politischen Entschlossenheit zur weiteren Erforschung technologischer Erweiterungen und Verbesserungen der Erneuerbaren und der Energieeffizienz.

Eine größere Rolle spielt bei den Nuklearbefürwortern der Glaube an das technologisch Mach- und Beherrschbare. Dieser aber wird interessanterweise zwar auf die Erforschung neuer Formen der Atomkraft bezogen, nicht aber auf die Erneuerbaren. Warum, so fragt man sich, soll Erfindergeist und Ingenieurskunst denn nicht ebenso wirksam und erfolgreich sein, wenn es um Speicher, Wasserstoff und Energieeffizienz, um Sektorkopplung und smart grids geht? Auch hier geht es um Technologien, aber um solche, die dem Gesellschafts- und Menschenbild einer offenen, demokratischen, partizipativen Demokratie entsprechen und weniger den Allmachtfantasien autoritärer Herrschaftsstrukturen.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die größten Promotoren der Atomkraft heute China und Russland sind. Beides Staaten, die im eigenen Land Minderheiten unterdrücken, Freiheitsrechte ihrer Bürger/innen beschneiden und als Atommächte die multilaterale Weltordnung untergraben. Sie sind unterwegs mit einer „Atomkraft-Diplomatie“, die andere, nicht unbedingt ärmere, aber geostrategisch relevante Länder wirtschaftlich, technologisch und energiepolitisch in Abhängigkeiten von diesen Großmächten zwingt, indem sie „Atomkraftwerksgeschenke“ offerieren.

Am Beispiel der Ukraine, die sich zwar militärisch, aber nicht zivil denuklearisiert hat, werden die Langzeitfolgen der schwer zu behebenden Abhängigkeiten gegenüber Russland deutlich: Die noch immer betriebenen 15 Atomkraftwerke mit einem Durchschnittsalter von ca. 32 Jahren zwingen das Land in eine massive technologische und ressourcenbezogene Abhängigkeit von Russland. Die Atomkraftwerke wirken als ein großes Modernisierungshemmnis und befestigen die andauernde geostrategische Abhängigkeit von Russland, die das Land versucht, abzustreifen.

Während Deutschland mit dem Atomausstieg seine Hausaufgaben gemacht hat, gerät die geostrategisch motivierte Atomkraftpolitik zu einer globalen Herausforderung, die nicht nur die internationale Umweltpolitik, sondern auch die Entwicklungspolitik herausfordert.

Atomkraft - Nein, Danke! Die Argumente liegen seit Jahren auf der Hand. Die Anti-Atomkraftbewegung aber gehört der Geschichte an. Das ist fahrlässig. Denn die neue Generation der Fridays-For-Future neigt in Teilen dazu, den Gefahren der Atomkraft weniger Bedeutung beizumessen und ihre ökologischen Gefahren zu unterschätzen. Der aktiven Gruppe von Wissenschaftler*innen und Politiker*innen und Bürger*innen, die der Atomkraftnutzung seit Jahrzehnten Fakten und Argumente entgegensetzen, die Entwicklungen beobachten und dokumentieren, darf das nicht egal sein.

Das Narrativ der friedlichen Atomkraftnutzung ist auserzählt. Seine realen und sozialen Kosten, seine ethischen Zumutungen sind gravierend und unverantwortlich hoch. Jetzt kommt es darauf an, eine wertegeleitete Energiepolitik im globalen Maßstab umzusetzen.